Warum „Ophelia’s Got Talent“ das beste Tanzstück des Jahres ist
Florentina Holzingers Performances werden seit Jahren heftig diskutiert. Für die einen ist sie das radikalste Talent der zeitgenössischen Tanzszene, für andere eine Dilettantin, die nur Spektakel kann. Spektakulär sind Choreografien wie Tanz, Étude for an Emergency oder Ophelia’s Got Talent allemal. Da wird zwar durchaus auch mal klassisch auf Spitze getanzt, hauptsächlich aber auf fahrenden Autos gerauft, am Fleischerhaken geschwungen, im gläsernen Pool getaucht. Holzinger und ihre Tänzerinnen verletzen sich, Blut fließt. Die österreichische Künstlerin, die sich selbst als „Adrenalinjunkie“ bezeichnet, steht auf riskante Stunts, schräge Side-Show-Acts und trashige Popkultur. Ein bisschen kokettiert sie auch mit dem Erbe der Wiener Aktionisten.
Ach ja, und alle performen nackt auf der Bühne. Das ist vielleicht sogar das bemerkenswerteste an Holzingers Choreografien. Zwar sind Nacktszenen auf deutschsprachigen Bühnen längst keine Seltenheit. Doch wie sie den entblößten weiblichen Körper zum Kraftzentrum, zum Symbol feministischer Selbstermächtigung macht, ist einzigartig. Wer voyeuristische Peep-Show-Erregung sucht, wird enttäuscht. Die Frauen auf der Bühne werfen sich nicht in sexy Posen, sie vollbringen kraftvolle, akrobatische Höchstleistungen, die nackte Haut ist ihre selbstverständliche Arbeitsmontur.
Mit ihrer selbstbewussten Nacktheit entzaubern die Frauen erotische Klischees
Was nicht heißt, dass man als Zuschauer:in nicht trotzdem fasziniert auf die entblößten Körper starrt, Schamhaarfrisuren studiert, durchtrainierte Muskeln bewundert, Falten und Muttermale registriert. Weil die Performerinnen so selbstbewusst, ohne jede Scham, agieren, wird ihre Nacktheit zum ultimativen Power Suit. Kleiderlos ist hier nicht gleich schutzlos. Brüste und Vulvas herzuzeigen macht die Frauen stärker als sie ohnehin schon sind. Es entzaubert erotische Klischees. Und es weitet den Blick, der immer noch mit viel zu vielen Trugbildern zugeballert wird, wie der perfekte Körper auszusehen hat.
Holzingers Frauen sind selbstbewusste Subjekte, keine Projektionen der male gaze. Sie arbeiten sich an der von Männern geschriebenen Theater- und Tanzgeschichte ab, and Dante, Shakespeare, Stravinsky. Wie provozierend das immer noch ist, zeigt sich an den öffentlichen Reaktionen. Auf dem Termi-Festival in Italien gab es einen Skandal. Holzinger mache Pornografie, hieß es in der konservativen Presse. Die Kuratorin, die sie zum Theaterfestival eingeladen hatte, wurde entlassen.
Beim blutigen Splatter-Finale kippt ein Zuschauer im Saal um
Ihr neustes Stück, Ophelia’s Got Talent, das 2022 an der Berliner Volksbühne Premiere hatte, gerade auf dem Kampnagel-Sommerfestival in Hamburg lief und vom Magazin Tanz zur besten Choreografie des Jahres gekürt wurde, startet mit einer Talent-Show-Persiflage, Captain Hook als Conférencier, Schwertschluckerin gegen weiblichen Houdini, Entfesselungstricks im Aquarium, Steptanznummern, Seemannslieder, Unterwasserballett, Schuberts Forellenmusik… Was das alles mit dem Ophelia-Mythos zu tun hat? Keine Ahnung. Aber die Dramaturgie entwickelt einen Sog. Spätestens beim waghalsigen Hubschrauber-Stunt, als fünf fliegende Amazonen am Seil die schlingernde Flugmaschine mit einem kollektiven Orgasmus zum Absturz bringen, bin ich hooked. Beim blutigen Splatter-Finale mit Seeungeheuern und Exorzisten-Gemetzel kippt ein Zuschauer im Saal um. Der Rest des Publikums applaudiert. Und bejubelt die nackte Ausnahmekünstlerin und ihre strahlende Crew.