O Canada: NF Blog

22.10. The Ferry

Meine Tage auf Fogo sind gezählt. In fünf Tagen verlasse ich die Insel. Schon jetzt kommt Wehmut auf, und auch eine gewisse Panik, dass ich noch gar nicht wirklich hinter das Geheimnis dieses Ortes gekommen bin, viele Fragen unbeantwortet bleiben. Ganz konkret auch, ob ich genug Material für meinen Film habe, mit den „richtigen Leuten“ gesprochen habe. Mit jeder Begegnung tun sich weitere Pfade auf, denen ich folgen möchte. Es ist ein bisschen wie Archäologie: Erst einmal das ganze weite Terrain überfliegen, dann an verheißungsvollen Stellen die Oberfläche ankratzen, erste Schichten abtragen. Dann läuft auch schon die Zeit (oder das Grant) aus. Also alles wieder zuschütten, Ort markieren und hoffen, dass man später genau da weitergraben kann. Vielleicht ist das das Geheimnis von Fogo: Auf den ersten Blick überschaubar, in Wahrheit unergründlich.

Bevor ich die Insel wieder verlasse, muss ich über die Fähre sprechen. Die Fogo-Bewohner haben ein innige Hass-Liebe zu den Schiffen, die Menschen, Tiere, Güter, alles, was man so braucht, auf die Insel und wieder runter transportieren. Tatsächlich ist der Fährverkehr heute eine unentbehrliche Lebensader. Die Fährschiffe fahren das ganze Jahr über, 4-5 mal am Tag. Nur bei heftigstem Sturm oder zu viel Eis fällt der Service aus. Die Fahrt von Farewell nach Stag Harbour dauert 45 Minuten bis 75 Minuten, je nach dem ob die Fähre einen Zwischenstopp auf Change Island macht. Es gibt kleine und große Schiffe, die Locals kennen sie beim Namen. Auf die MS Veteran passen ungefähr 64 Autos und 200 Passagiere. Wieviele genau, hängt davon ab, ob unter den Fahrzeugen auch LKWs, Tanklaster, Holzschlepper, Kräne oder Autos mit Bootsanhängern sind. Es gibt Sommer- und Winterfahrpläne, eigentlich alles gut organisiert. Dennoch herrscht immer ein bisschen Unsicherheit darüber, ob und wann welche Fähre geht. Manchmal ist eine kaputt, machmal fällt eine aus, manchmal macht sie einen außerplanmäßigen Zwischenstopp. Vorab reservieren geht nicht, first come, first served. Aber auch dieses Prinzip stimmt nicht immer. Man fährt zum Anleger und stellt sich in die Warteschlange. Wenn die Fähre hupt, beginnt das Autoballett, besonders bei den kleinen muss alles genau austariert werden, welches Auto wohin passt, manchmal muss man rückwärts drauf fahren, manchmal werden andere Autos vorgelassen. Die Locals nehmen es meist gelassen. Vorher checkt man die Verkehrs-Website 511. Es gibt auch Facebook-Gruppen zur Fähre, da fragen Leute nach Mitfahrgelegenheiten oder auch, ob es sich noch lohnt, sich hinten an in die Schlange für die 10 am-Fähre einzureihen. Es gibt auch eine Site, wo Leute ihren Frust ablassen, die heißt „Fogo Island Ferry Rants And Roars“.

Ich mache den Fährentrip jetzt zum siebten Mal, tatsächlich schreibe ich diesen Text in der Lounge der Veteran, 10 am, Winter Schedule mit Zwischenstopp Change Island. Mittlerweile kenne ich mich aus, treffe Leute von der Insel wieder, eben gerade den Handwerker, der seit Wochen am Schuppen neben meinem Haus arbeitet, letzte Woche den Folk-Gitarristen aus der Inselkneipe. Die Fähre ist ein reines Funktionsgerät, es gibt an Bord kein Entertainment, keinen Kaffee, keine Souvenirs. Da ist zwar ein Servicetresen, der wurde aber schon lange nicht mehr benutzt. Dennoch sind die Fährüberfahrten auch informelle Community Meetings. Die Leute tauschen Neuigkeiten aus, machen Business, erzählen sich, wieviele Elche sie geschossen haben… Die einstündige Zwangspause kann etwas zauberhaft Meditatives haben. Ich beobachte immer wieder Leute, die sich in eine Fensternische setzen und einfach nur aufs Meer starren. Auf meinen Überfahrten habe ich schon (fast) alle Wetter und Stimmungen erlebt: postkartentaugliche Sunsets, Sturm, Regen, Wellengang, magische Nebelbänke, Strandkorb-Feeling auf dem Sonnendeck. Den Fährverkehr gibt seit den 60er Jahren, zuerst passten gerade mal 5 Autos auf das Schiff. Ich habe mit Leuten gesprochen, die noch die Zeiten ohne Fähre kennen. Damals waren die Inselbewohner wirklich abgeschlossen. Aufs Festland kam man nur mit kleinen Fischerbooten, die Überfahrt war gefährlich, mit Zwischenstopps konnte sie zwei Tage dauern. Eine ältere Dame erzählte, wie sie im Winter zu Fuß über das zugefrorene Meer von Fogo nach Change Island wanderte. Und wie man sich behelfen musste, wenn jemand krank war. Lange Zeit gab es keinen Arzt und auch kein Krankenhaus auf Fogo. 

Dass das alles noch gar nicht lange her ist, merkt man den Inselbewohnern an. Sie haben immer noch eine starke Selbstversorger-Mentalität. Man legt Vorräte für den Winter an, lagert selbst gezogenes Gemüse und Kartoffeln im „Root Cellar“, manche haben Hühner oder auch noch ein Schwein im Stall. Man sammelt Beeren, kocht Marmelade, legt Gurken ein, salzt und trocknet Fisch, jagt Karibus und Elche, Seehunde und Enten. Vor den Häusern sehe ich die Holzstapel wachsen. Auch eine Vorbereitung für den Winter. Früher haben die Männer das Holz auf Fogo ausschließlich selbst geschlagen, heute sieht man große Laster, die Holz vom Mainland auf die Insel bringen. Als Brennmaterial. Aber auch als Baustoff für die Zukunft.

Ein Nebengeschäft des Fogo Island Inn ist die Holzwerkstatt in einen ehemaligen Gewerkschaftshaus in Joe Batt’s Arm. Dort wurden die Möbel für das Luxushotel gefertigt. Heute entstehen dort hochwertige Stühle, Tische, Kücheneinrichtungen für einen größeren Markt. Ich würde gern einen dieser Stühle mitnehmen: den Punt Chair, dessen Design von den typischen Fischerbooten auf Fogo inspiriert wurde. Auf der Fähre wäre das kein Problem, im Flugzeug nach Hamburg schon eher.

16.10. Close Encounters & Birds Eye View

In den letzten Tagen hatte ich wenig Zeit zum Schreiben. Stattdessen war ich von morgens bis abends unterwegs mit Jörg, der mich als Kameramann und Freund bei meinem Filmprojekt unterstützt. Wir haben einzigartige Menschen getroffen, spannende Interviews aufgezeichnet. Die Leute auf Fogo sind unglaublich offen und nahbar. Und sie sind geborene Geschichtenerzähler. Freimütig teilen sie ihre Familiengeschichten und Lebenserfahrungen mit uns, vermitteln traditionelles Wissen, erklären neue Forschungsprojekte. Pete erzählt von seiner Zeit als Kabeljau-Fischer und Bootsbauer, Fischfabrik-Manager Paul vom Garnelenfang, einem relativ neuem Geschäftszweig auf Fogo. In der voll-automatisierten Fabrik werden jeden Tag zig Tonnen wild gefangene Garnelen geschält und schockgegoren. Fun Fact: Die Sortiermaschine fotografiert jede einzelne Garnele, ca. eine Million pro Stunde. 

Biologin und Adventure Guide Lorie Penton nimmt uns mit zum Foraging. So nennt sich das Sammeln von Essbarem in der Wildnis. Von ihr lernen wird, dass es auf Fogo mehr als 30 verschiedene essbare Beerensorten gibt, viele wahre Wunderwaffen in Sachen Vitaminreichtum und Antioxidantiengehalt. Außerdem gibt es Pflanzen, die sich für heilende Tees eignen, z.B. Labrador Tee oder die Blätter von wilden Himbeeren. Auch die unappetitlichen schwarzen Flechten auf den Felsen sind essbar und haben antibakterielle Wirkung. Die Knospen eines anderen Krauts kann man rösten und als leckeren Pfeffer verwenden. Vieles von diesem Wissen stammt von den First Nations. Lorie selbst hat indigene Vorfahren, ihre Großmutter war Inuit, von ihr hat sie die Sprache der Pflanzen gelernt. Sehr spannend war auch, mit Amanda zu sprechen. Sie will vor der Küste Fogos Algenfarmen aufbauen als nachhaltige Nahrungsquelle und zukunftsweisendes Business für die Inselbewohner. Die Algen wachsen an vertikalen Seilen, die in geschützten Buchten verankert sind. Nach der Ernte werden sie vor Ort zu Nahrungsmitteln verarbeitet. Als Pulver oder getrocknete Flocken sind die nährstoffreichen Algen vielseitig verwendbar, auch als Fleischersatz. Sie binden CO2 und eignen sich auch als natürlicher Dünger und Plastikersatz. Aus Algen kann man kompostierbare Becher, Teller und Folien formen, die die Meere nicht weiter verschmutzen würden. 

Überhaupt, diese fantastische Flora und Fauna! An einem Ort wie Fogo erlebt man die Natur viel unmittelbarer: ihre Vielfältigkeit, elementare Kraft, ihre Anpassungsfähigkeit. Auch das versuche ich beim Filmen einzufangen. Fogo entstand vor rund 400 Millionen Jahren, als die afrikanische Landplatte mit Nordamerika zusammenprallte. So brach die Erdkruste, glühende Magma blubberte aus dem Erdinneren an die Oberfläche, formte das Applachen-Gebirge und auch die Gesteinsformationen auf Fogo Island. All das weiß ich von Steve Morison, einem Geologen, der auf Fogo forscht. Mit ihm bin ich mehrfach über die Insel gewandert, er hat mir mit der Lupe Kristalle im Granit gezeigt und den Eisengehalt der dunklen Magma-Felsen, an denen Magneten kleben bleiben. Steve hat mich auch auf die Einkerbungen aufmerksam gemacht, die gewaltige Gletscherbewegungen auf den Felsen hinterlassen haben. Vor etwa 20.000 Jahren war Fogo wie große Teile Nordamerikas von einer zwei Kilometer dicken Eisschicht bedeckt. Während dieser Eiszeit wurden Berge und Klippen abgeschliffen, die Insel erhielt ihre heutige Form. Es dauerte Jahrtausende, bis sich das Eis zurückzog. In dieser Zeit entwickelte sich eine neue Pflanzen- und Tierwelt. Es gab Mammuts, Riesenbären, Pferde, Kamele. Vor 5000 bis 8000 Jahren hinterließen auch erste Menschen ihre Spuren. Wenn man die Landschaft betrachtet, die sumpfigen Marschen mit ihren wippenden Gräsern und spiegelnden Seen, die windgepeitschten Heidelandschaften und das stürmische Meer, kann man sich heute noch vorstellen, dass ein Urzeitbär aus dem Dickicht springt. Bisher ist uns allerdings nur ein Fuchs begegnet, der sich im Gras sonnte. 

Die atemberaubendsten Bilder sind mit der Kameradrohne entstanden. Spektakuläre Fahrten an unzugänglichen Küstenstreifen entlang. Erst aus der Vogelperspektive werden die einzigartigen geologischen Formationen Fogos richtig sichtbar, auch das Wildromantische dieses rauen Eilands. Am Fuß des Brimstone Head, einem mächtigen, meerumspülten Fels steht eine Plakette, die den Ort als einen der vier Ecken der „Flat Earth Society“ kennzeichnet. Wenn man von oben ins weite Blaugrau des Nordatlantik schaut, könnte man wirklich glauben, die Welt sei hier zu Ende.

4.10. Open Doors & Open Mic

Heute kam erstmals Besuch ins Atelier: eine Reisegruppe aus dem Inn hatte sich angekündigt. Sie wollten sehen, was die Künstler:innen auf der Insel so treiben. Eigentlich gibt’s bei mir noch nicht viel zu sehen. Ein paar Interviews habe ich zwar schon gemacht, aber die wichtigen Dreharbeiten starten erst übermorgen, wenn mein Kameramann ankommt. Der Arbeitstisch im Tower Studio ist schon eingerichtet, an den Wänden hängen Fotos, Moods, ein paar Listen zu möglichen Drehorten und Interviewpartnern. So gibt’s zumindest etwas zum Gucken, während ich am Rechner Filmclips sortiere. Ich feuere den Ofen an, es regnet und windet heftig. Dennoch stehen um drei Uhr nachmittags zehn freundliche Kanadier vor der Tür, einer stellt sich als Chef der BMW-Vertetung in Toronto vor, er sei öfter in Deutschland unterwegs und liebe Berlin. Die Gruppe beäugt neugierig die Fotokopien an den Wänden, zwei Männer klettern die Leiter hoch bis ins Obergeschoss. Mir wird dabei klar, dass das Künstler-Residenz-Programm auch einen touristischen Zweck hat: Studio Visits gehören zu den Activity-Angeboten für die Inn-Gäste ebenso wie Beerensammeln und Wandern. Kunst-Experten scheinen diesmal nicht dabei zu sein. Ich frage, was bei den Leuten zuhause an den Wänden hängt, ob sie öfter in Galerien gehen. Da sprudeln keine Künstlernamen. Zeitgenössische Kunst verunsichere sie, gesteht eine Frau. Die Atmosphäre in Galerien empfinde sie als abschreckend. Erstaunlich! Selbstbewusste Leute, die große Unternehmen leiten, um die Welt jetten, 2000 Euro die Nacht für ein Hotelzimmer am Ende der Welt ausgeben, erlesene Weine und experimentelle Küche schätzen, haben Angst, eine Kunstgalerie zu betreten. Ich ermutige sie, es dennoch zu tun, Fragen zu stellen, nicht einschüchtern lassen, auch wenn das Personal hochnäsig tut. Es entspinnt sich eine lebhafte Diskussion über spontane Kunstkäufe, Lieblingsmuseen und Film als künstlerisches Medium. Dann müssen sie wieder weg, es steht noch ein weiterer Atelierbesuch auf dem Programm. Später, als ich ganz in meine Filmschnipsel vertieft bin, höre ich plötzlich schon wieder ein Hallo von unten. Oh Schreck, wer ist da in meinem Haus? Ich schaue die Treppe runter und sehe einen Mann, dick eingemummelt in Karojacke und Ohrenklappenmütze, der grinsend um die Ecke schaut. Ein Serial Killer? Er stammelt eine Entschuldigung: lange Wanderung, interessiert an Architektur, wollte schauen, wie das tolle Turmhaus von innen aussieht… Ich bleibe misstrauisch. Wo ich herkomme, geht man nicht einfach so in fremde Häuser. Da stellt er sich freundlich vor: Steve York, Musiker aus Toronto, zum ersten Mal auf Fogo, die Freundin krank im Bett, er durchgefroren nach 3 Stunden im Regen und Wind. In Toronto betreibt er einen stadtbekannten Open-Mic-Club, Free Falls Sundays, jetzt ist er mit seiner Freundin auf dem Weg zu einer Künstler-Residency. Ich beschließe: der ist harmlos. So ist das eben auf dieser Insel: Die Leute klopfen nicht mal an, sondern stehen einfach in der Bude. (Ein paar Tage später steht ein Brautpaar vor der Tür. Sie wollen Hochzeitsfotos schießen im Abendrot mit meinem Studio-Turm im Hintergrund. Ich lasse sie gewähren, bis mir das Drohnengesurre irgendwann zu viel wird.)

Am Abend ist Open-Mic-Night ins Storehouse, einer Kneipe in Joe Batt’s Arm, die auch Bingo-Abende und Kochkurse anbietet. Ich gehe hin, weil sie gleich um die Ecke liegt und ein bisschen Live-Musik Abwechslung in mein solitäres Dasein bringt. Ich nehme sogar meine Gitarre mit. Ob ich allerdings die Nerven haben werde, tatsächlich öffentlich aufzutreten, weiß ich noch nicht. Es wäre das erste Mal. Bisher habe ich höchstens mal für enge Freunde oder die Familie gespielt. Kaum sitze ich, spricht mich Nathan an, der den Musikabend organisiert. Ob ich nur zuhören oder auch selbst spielen wolle? Auf der Performer-Liste stehen nur drei Namen. Etwa 20 Gäste sind da. Da spaziert der Überraschungsgast vom Nachmittag herein: Steve setzt sich zu mir, ist ja auch fremd hier. Ohne die Mütze sieht er ganz manierlich aus, Typ Urban Hipster mit Motiv-Strickjacke. Er redet mir zu, meinen Namen auf die Liste zu setzen. Ich will lieber erstmal ihn spielen hören. Schließlich ist er ja so was wie ein Open-Mic-Profi. Bruce Pashak gesellt sich zu uns, der Künstler/Musiker, den ich letzte Woche in seinem Atelier besucht habe. Er komme fast immer zum Open-Mic-Abend. Und er spielt hinreißend gut, eigene Songs und Cover Versions. Zu viel Druck für mich. Viel zu schnell leere ich mein Weinglas und schreibe in einem Anfall von Bravado meinen Namen auf die Liste. Genauso schnell steigt Panik in mir auf. Da legt mir Nathan die Hand auf die Schulter: No pressure! Aber wenn ich spielen möchte, könne ich ruhig seine Gitarre benutzen, die schon verkabelt ist, und einfach nur ein Lied spielen. Ich starte mit Johnny Cashs „Hurt“, einen Song, den ich eigentlich im Schlaf performen kann. Meine Finger zittern, ich verhaspele mich. Gut, dass ich das Publikum vorgewarnt habe. Dann spiele ich Minnie Ripertons „Lovin You“ und danach noch eine eigene Improvisation – alles ziemlich stümperhaft. Aber das Publikum ist bezaubernd. Applaus, keine Buhs. Hinterher klopfen mir die wirklich guten Musiker auf die Schulter. Nathan sagt: Das Wichtigste ist, dass du den Mut gefunden hast! Und tatsächlich: Ich weiß, dass ich längst keine Virtuosin bin. Doch Fogo bringt mich dazu, meine Comfort Zone zu verlassen. Der Auftritt hat mich verwundbar und stark gemacht. So stark, dass ich dieses Video mit euch teile – thanks to Steve York, der es an dem Abend aufgenommen hat.

30.9. Truth & Reconciliation

Heute habe ich das Beothuk Interpretation Centre in Boyd`s Cove besucht, ein Museum und eine Ausgrabungsstätte zur Erforschung eines ausgelöschten indigenen Volks. Die Beothuk und ihre Vorfahren lebten über 2000 Jahre an den Küsten Neufundlands im Einklang mit der Natur. Sie wurden auch das „Rote Volk“ genannt, weil zu ihren Ritualen gehörte, sich mit rotem Ocker zu bemalen. Vermutlich stammt daher der abwertende Begriff „Rothaut“ für Nordamerikas indigene Bevölkerung. Denn die Beothuk gehörten zu den ersten Einheimischen, die europäische Seefahrer auf ihren Expeditionen zu Gesicht bekamen. Über ihre Kultur gibt es nur wenige gesicherte Fakten. Sie lebten in kleinen Gemeinschaften von 30-50 Menschen, waren exzellente Jäger und Bootsbauer. Auf ihrem Speiseplan standen Wale, Lachse, Seevögel, Hummer, Muscheln, Krebse sowie Karibu und Seehunde. Aus deren Häuten machten sie Kleidung und Zeltplanen. Aus den Knochen fertigten sie mysteriöse, zeichenhafte Objekte, vermutlich Schmuckstücke oder Talismane. Boyd’s Cove ist eine der wichtigsten, aber auch traurigsten Orte ihrer ausgelöschten Geschichte. Hier lebten die Beothuk schon vor der Ankunft der Europäer. 

Als ich am frühen Morgen durch den stillen Wald und moosbewachsene Lichtungen zur ehemaligen Siedlung wandere, verstehe ich sofort, warum sich die Beothuk genau hier niedergelassen haben. Ihr Dorf lag auf einer baumfreien Anhöhe über der Bucht, davor ein Sandstrand, an dem man gut mit dem Boot landen kann, ringsherum schützender Wald und nebendran ein kleiner Fluss mit Wasserfall, also Süßwasserversorgung und Lachse satt. Warum die Beothuk das Dorf Mitte des 18. Jahrhunderts verlassen haben, darüber kann man nur spekulieren. Doch es war die Zeit, als immer mehr europäische Siedler in die Neue Welt kamen und die First Nations mit brutalen Mitteln von ihren angestammten Plätzen verdrängten. In historischen Aufzeichnungen wird berichtet, dass die Beothuk anders als andere indigene Völker keinen Kontakt zu den weißen Eindringlingen suchten. Im Gegenteil. Immer wieder zerstörten sie die Lager der Fischer, verbrannten ihre Boote, klauten Werkzeuge. Die britischen Siedler wiederum waren nicht zimperlich und töteten die widerständigen „Wilden“. Es gibt zeitgenössische Berichte von Massakern, Vergewaltigungen, Kindstötungen. Die Beothuk wurden von ihren Jagd- und Fischgründen vertrieben. 1768 schrieb Lieut. John Cartwright, dass die Engländer fast alle Flüsse und Bäche Neufundlands in ihren Besitz genommen hätten. Ende des 18. Jahrhundert fischten sie jährlich 550 Tonnen Lachs aus diesen Flüssen. So nahmen sie den Indigenen ihre Nahrungsgrundlagen und infizierten sie obendrein noch dazu mit eingeschleppten Krankheiten. Die letzten Beothuk, zwei Frauen namens Demasduit und Shanawdithit, lebten in Gefangenschaft und starben 1823 bzw. 1829 an Tuberkulose. Demasduit musste mit ansehen, wie ihr Mann getötet wurde und verlor ihr Neugeborenes, Shanawdithit lernte Englisch und hinterließ eine Reihe von Zeichnungen und Berichten zur Kultur ihres Volkes, die heute zu den wenigen authentischen Überlieferungen der Beothuk zählen. Ihr zu Ehren steht mitten im Wald von Boyd’s Cove eine Bronzeskulptur, die eine stolze Beothuk-Frau zeigt.

Im Beothuk Interpretation Center sind Ausgrabungsstücke, Pfeilspitzen, Knochen und andere Werkzeuge zu sehen, auch ein nachgebautes Kanu aus Birkenrinde in einem Diorama mit lebensgroßen Figuren des Roten Volks. Heute haben sich etwa 20 Leute mit orangen T-Shirts und Trommeln eingefunden. Der 30. September ist in Kanada Truth and Reconciliation Day, ein relativ neuer Nationalfeiertag zur Erinnerung an das Unrecht, das der indigenen Bevölkerung angetan wurde. Auf den orangen T-Shirts steht „Every Child Matters“, ein Protest-Slogan, der auf die schlimmen Zustände in den Residential Schools verweist. In diesen Schulen wurde indigenen Kindern mit Gewalt ihre Herkunft ausgetrieben, ihre Sprache verboten, ihre indigenen Namen getilgt, sie wurden misshandelt, missbraucht, getötet. Die letzten dieser Schulen wurden erst in den 90er Jahren geschlossen. Jetzt suchen forensische Archäologen rund um die Grundstücke nach Kinderleichen. Das dient der Wahrheitsfindung. Aber wie soll man so etwas je vergeben? In Boyd’s Cove hält eine Pastorin mit indigenen Wurzeln eine kurze Rede, dann zündet die Leiterin des Beothuk Instituts eine Schale mit Heilkräutern an, Süßgras, Tabak, weißer Salbei, und wedelt den Rauch mit einer Adlerfeder über die Körper der Anwesenden. Smudging heißt dieses Ritual. Es soll reinigen und die böse Geister vertreiben. 

26.-28.9. Studio Visits

Fogo ist weit weg von den angesagten Kunstzentren. Umso erstaunlicher, wie viele Künstler sich dennoch auf dem keinen Eiland dauerhaft niedergelassen haben. Sicher ist das auch ein Verdienst der Fogo Island Arts Foundation. Wenn man Künstler auf der Insel trifft, stellt sich heraus, dass die Gründe, gerade hier zu arbeiten, so vielfältig sind wie die Werke, die auf Fogo entstehen. Bruce Pashak hatte ich letztes Jahr schon kennengelernt. Er hat ein schönes, freistehendes Studio in Deep Bay, einem etwas entlegeneren Ort auf Fogo. Er ist ein bisschen menschenscheu, glaube ich. Doch als ich jetzt wieder anklopfe, empfängt er mich herzlich. Vor acht Jahren ist er aus Vancouver nach Fogo gezogen, auch weil ihm Zeta Cobbs Idee gefiel, mit Kultur und Gemeinsinn der Insel eine Zukunft zu geben. In seinen verrätselten Gemälden treffen fein gezeichnete Tierfiguren auf Schrift und Muster. Manches erinnert an Robert Rauschenberg. Er ist ein hervorragender Zeichner, schätzt Anselm Kiefer und findet Referenzen in Musik, Literatur und Lyrik. Gerade arbeitet er sich an Gustav Mahler ab. Er zeigt mir sein neustes Künstlerbuch, das sich mit Kreisformen und Dichtung beschäftigt. Auf der Insel ist er auch als Musiker bekannt, spielt Gitarre, komponiert eigene Stücke, schreibt Songtexte. In der Singer-Songwriter-Tradition von Bob Dylan, meint er etwas verlegen, als ich nach seiner Musikrichtung frage. Ich habe ihn noch nicht spielen hören, aber sicher ist er gut. Das Fogo Island Inn bucht ihn öfter für Auftritte, gerade erst wieder für ein Privatkonzert für eine exklusive Wandertruppe, die sich einmal jährlich auf Fogo zum hiken trifft.

Erin Hunt kam aus Brooklyn nach Fogo. Zuvor hatte sie Architektur in Halifax studiert, war zum Arbeiten nach London gegangen, dann nach New York, wo sie mit ihrem Mann, einem Studienkollegen aus Halifax, eine Familie gründete. Wie so viele kämpfte dort mit steigenden Mieten, hohen Lebenskosten, kleiner Wohnung, die klassische New York Story. Als Erins Mann schließlich das Angebot bekam, als Architekt auf Fogo zu arbeiten, schien das verlockend und beängstigend zugleich. Bis dahin hatten sie nie von Fogo gehört, es gab kaum Infos über die Insel, nur ein paar Schlagzeilen, dass eine Tech-Millionärin dort ein visionäres Programm zur Revitalisierung der Insel starten will und dazu ein Luxushotel baut. Aber wie wohnt es sich auf Fogo, wie sind die Schulen, gibt es Kitas, wer sind deine Nachbarn? All das fragte sich Erin als Mutter mit zwei Kindern, eines gerade mal fünf Monate alt. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie schon elf Jahre hier. Dabei war das Inseldasein anfangs eine Herausforderung, erzählt sie. Es gab keine Kunstszene, keine Freunde und Familie dort. Andererseits war das Angebot mit eigenem Haus zu gut, um es auszuschlagen. Sie hätten es erstmal wie ein temporäres Abenteuer begriffen, ruhiges Inselleben in berauschender Natur – eine schöner Break von New York. Das richtige Atelier auf Fogo zu finden und überhaupt einen neuen künstlerischen Ansatz dauerte dann aber doch ein bisschen länger.

Ich habe Erins Arbeiten zuerst auf der Bonavista Biennale gesehen. Offenbar hat sie ihre künstlerische Handschrift gefunden. Auf den leicht verwaschenen wirkenden Leinwänden überlagern sich organische Formen und Linien. Ausgangspunkt für ihre Komposition sind Fundstücke, die sie am Strand sammelt: ein verrotteter Kinderstiefel, ausgeblichene Plastikteile, Schnüre, Verpackungen. Aus diesen Zufallsfunden baut sie kleine Environments, die als abstrakte Formen ihren Weg in die Bilder finden. Es sei kein streng konzeptuelles Verfahren, auch kein Abmalen von Objekten, sondern eine lyrische Verwandlung. Eine Art musikalische Partitur, die sie in ihren Bildern zusammenfügt. Das muss man nicht unbedingt so sehen, doch ihre Werke haben einen Zauber, der die raue, introvertierte Stimmung der Insel widerspiegelt. Bei meinem Studiobesuch erzählt mir Erin noch, dass sie sich manchmal stundenlang Blumen studiert. Dazu setzt sie sich in die Natur und lässt die Blüten auf sich wirken. Neben ihrer Malerei stellt sie Blütenessenzen her. Als künstlerische Praxis und auch zu Heilzwecken. Sie hat sich sogar zur Blumentherapeutin ausbilden lassen. Im Hinterzimmer ihres Ateliers berät sie manchmal Menschen, die durch Blüten Heilung suchen. Klingt esoterisch. Doch auf Fogo, diesem sehr speziellen Ort, kommt es mir gar nicht so abgedreht vor.

25.9. From Away

Letzte Woche war ich beim Talk von Fadzai Veronica Muchemwa, Kuratorin aus Zimbabwe und ebenfalls Artist-in-Residence auf Fogo. Bei ihrem Vortrag ging es um Gefühle von Fremdheit und Zugehörigkeit, um das „From Away“-Sein auf einer kleinen Insel wie Fogo mit nur rund 2000 Einwohnern, die fast alle weiß, irischer oder englischer Abstammung sind. Fadzai erzählt von ihren Recherchen, ihrer Suche nach Verbindungen zu Afrika. Und von der Überraschung, ausgerechnet hier Leute aus Zimbabwe zu treffen, noch dazu aus ihrem Viertel in Harare: Liberty und Pamela Mataeibire! Sie sind das neue Pastorenpaar auf Fogo. Für die Kuratorin kochen sie Sadza, eine traditionelle afrikanische Maismehl-Speise. Da hätte sie sich plötzlich wie zuhause angefühlt, sagt Fadzai. Auch zu ihrem Talk sind sie gekommen. Bei Tee, Keksen und Gurkensandwiches – ein Gruß vom Küchenchef des Fogo Island Inn – entspinnt sich ein lebhaftes Gespräch über Fremdes und Vertrautes, Lokales und Globales. Es stellt sich heraus, dass unter den Talk-Gästen kein einziger gebürtiger Fogoer ist. Alle sind zugezogen, manche vor 50 Jahren, andere erst vor einem Jahr. Gern hätte ich mich mit Fadzai noch weiter ausgetauscht. Aber ihre Residency ist zu Ende,  sie fliegt am nächsten Tag zurück. Dafür laden Liberty und Pamela mich zu sich nach Hause ein. Liberty ist Pastor der United Church in Seldom. Die beiden haben sich von Zimbabwe aus beworben. Vier Jahre war die Stelle nicht besetzt, die Kirche verwaist. Jetzt bringt der neue Pfarrer und seine sechsköpfige Familie wieder Leben in die Gemeinde.  

Am Sonntag gehe ich zum Gottesdienst. Die United Church liegt direkt an der Hauptstraße. Auf dem großem Parkplatz stehen nur eine Handvoll Autos. 20 Gläubige vielleicht finden sich in der hellen Kirche ein, viele im Rentenalter. Die drei Mataeibire-Mädchen und ihr kleiner Bruder Junior sind die einzigen Kinder. Für mich ist es der erste Gottesdienst seit langem. Die United Church of Canada sieht Jesus als ihre Leitfigur. Gegründet 1928 als Zusammenschluss aus Presbyterian, Methodist und Congregational Churches. ist sie basisdemokratisch organisiert, inklusiv, LGBTQ-freundlich. Bemerkenswert vielleicht noch, dass sich die Kirche schon 1986 bei den kanadischen Ureinwohnern entschuldigte, und zwar mit diesen erstaunlich selbstkritischen Worten: „Long before our people journeyed to this land your people were here, and you received from your Elders an understanding of creation and of the Mystery that surrounds us all that was deep, and rich, and to be treasured. We did not hear you when you shared your vision. In our zeal to tell you of the good news of Jesus Christ we were closed to the value of your spirituality. We confused Western ways and culture with the depth and breadth and length and height of the gospel of Christ (…)“ Das alles habe ich aus dem „Manual“, der Kirchensatzung, die im Internet veröffentlicht ist – ebenso übrigens wie die Jahresbilanzen. Der Gottesdienst ist gedämpft, Gebete und Kirchenlieder werden mehr geflüstert als geschmettert. Fünf rüstige Ladies in violetten Roben bilden den Chor. Pastor Liberty hält eine Predigt über Neid, Not und gerechten Lohn für die Arbeiter in Gottes Weinberg. Das wohlwollendste Lächeln der Gläubigen gilt seiner jüngsten Tochter, die auf Socken durch die Kirche purzelt und vor der Kanzel Faxen macht.  

Tags drauf stehe ich im Wohnzimmer des Pfarrhauses in Seldom, auch auf Socken. Im Vorgarten liegen Kinderfahrräder. Liberty und Pamela sitzen auf dem Sofa und erzählen mir ganz offen von ihrem neuen Leben auf Fogo: dem freundlichem Empfang, den anfänglichen Verständnisschwierigkeiten wegen des starken Dialekts, ihrer Angst vorm Meer, wie es war, zum ersten Mal Elchfleisch zu essen…  Ab und zu kommen die beiden Kleinsten angeflitzt, schmiegen sich an ihre Eltern, malen in mein Notizbuch. Die beiden älteren Mädchen sind noch in der Schule. Hier ein kleiner Ausschnitt aus dem Gespräch.

United Church pastor Liberty Mataeibire and his wife Pamela at their home in Seldom, Fogo Island

20.9. Gardening

Gärtnern auf Fogo ist eine Herausforderung. Man könnte auch sagen: eine besondere Kunst. Die Insel ist karg und windig, die warmen Tage sind gezählt, im April schwimmen noch Eisberge vorbei. Säen und pflanzen kann man erst ab Mai/Juni und im September kann schon wieder der Frost kommen. Trotzdem gedeiht das Gemüse in Norm Foleys Garten prächtig. Der Farmer bewirtschaftet ein Stück Land in Olivers Cove, nur einen Steinwurf vom Meer entfernt. Die Erde ist schwarz und fruchtbar. Norm baut Kartoffeln und Möhren an, Rote Beete, Pastinaken, Mangold, Salat, Erbsen, Bohnen, Zwiebeln, Fenchel. Das Grundstück ist klein, eingezäunt mit einem Holzzaun als Schutz vor hungrigen Caribous. Norm setzt hier die Tradition seiner irischen Vorfahren fort. Nach 20 Jahren, die er in Toronto und anderswo als Bauarbeiter verbracht hat, ist er nach Fogo zurückgekehrt und lebt jetzt von dem, was er hier anbaut, fischt und erlegt. Wie jedes Jahr will er im Oktober wieder auf Elchjagd gehen. Seine wahre Leidenschaft jedoch ist das Gärtnern. Jeden Tag schaut er im Garten vorbei, der nur ein paar Gehminuten von seinem Haus in Tilting entfernt liegt. Er verzichtet auf künstliche Düngemittel und Pestizide. Stattdessen düngt er mit Seetang, der in der Bucht im Herbst angeschwemmt wird. Den kompostiert er über den Winter und mischt ihn im Frühjahr unter die Erde. Die Pflanzen scheinen das zu mögen. Norm schenkt mir zum Probieren eine Auswahl seiner Ernte. Alles schmeckt wirklich umwerfend gut:  die Rote Beete so zart, dass man sie roh essen kann, die Möhren mit intensivem, leicht salzigem Aroma. Das komme vom Seetang und dem Salzwasser in der Luft, sagt Norm. Auch der Chefkoch des Fogo Island Inn, wo Sterne-Küche serviert wird, ist auf sein Gemüse aufmerksam geworden. Inzwischen beliefert er das Inn und kocht regelmäßig für die Gäste dort. Dabei besitzt er nicht mal ein eigenes Auto. Dafür aber einen Root Cellar. So heißen die traditionellen unterirdischen Lagerräume für Kartoffeln und Wurzelgemüse. Durchs Gelände kurvt er mit einem Quad, im Winter mit dem Snowmobile. Wenn die Leute vom Inn mich brauchen, schicken sie einen Fahrer, sagt Norm. Und jetzt will er nochmal los, Blaubeeren pflücken. Die Sonne scheint und er kennt die besten Plätze.

Gardening on Fogo Island: Norm Foley in seinem Reich in Oliver’s Cove

18.9. Teilnehmende Beobachtung

Als ich Bonnie McCay in Tilting besuche, backt sie gerade Blaubeerkuchen. Sorry, der müsse noch schnell in den Ofen, entschuldigt sie sich. Wir könnten aber trotzdem reden. Das tun wir dann zwei Stunden lang, während Bonnie zwischen Tisch, Herd und Spühle hin- und herspringt, zwischendurch Tee kocht, eine leckere Mangold-Suppe serviert und versehentlich den Toast verbrennen lässt. Als der Rauchmelder schrill pfeift, müssen wir beide lachen. Das Gespräch war einfach zu spannend. Bonnie ist eine bekannte Anthropologin, Mitglied der United States National Academy of Sciences, Leiterin des Department of Human Ecology an der Rutgers University, Beraterin von Ministerien zu Fischereipolitik und Meeresschutz. Studium an Uni Berkley und  Columbia University. 17 Bücher, unzählige Fachartikel. Ihr CV ist beeindruckende 65 Seiten lang. Promoviert hat sie zum Thema Appropriate Technology and Coastal Fishermen of Newfoundland. Sie ist eine profunde Kennerin der Verhältnisse auf Fogo. 1973 kam sie mit einem Forschungsstipendium auf die Insel, um die Fischereibedingungen und die Organisation des Gemeinwesens zu erforschen. Zwei Jahre wollte sie bleiben. Sie ließ sich in Tilting nieder, dem nordöstlichsten Fischerhafen auf Fogo mit bis heute starken irischen Wurzeln. Warum gerade Tilting? Weil sie den irischen Dialekt besser verstehen konnte als die anderen Dialekte auf der Insel. Sie beobachtete das Leben der Menschen, nicht aus der Ferne, sondern indem sie mitten unter ihren Studiensubjekten lebte. „Ich war bei Taufen und Beerdigungen dabei, ich fuhr mit den Fischern raus, schaute bei der Fischverarbeitung zu und machte Notizen dabei“, erzählt Bonnie. Teilnehmende Feldforschung nennt sich diese wissenschaftliche Praxis, die von Anthropologen so auch zur Erforschung indigenen Völker im Amazonas oder Papua Neuguinea angewandt wird. Für die Inselbewohner war das gewöhnungsbedürftig: Eine junge Frau von weit weg, die ihre Lebensweisen beobachten, mit zum Fischen gehen wollte. Unerhört! Bringt Unglück! Doch Bonnie gewann ihr Vertrauen. Und die gebürtige Kalifornierin verliebte sich in die Insel. Sie kaufte ein Haus in Tilting und lebt nun schon 50 Jahre auf Fogo. Zumindest zeitweise. In unserem Gespräch ging es um Traditionen und Veränderungen auf der Insel, die Rolle der Frauen, die Funktion der Fischerei-Kooperative und auch um das Gefühl, nach all den Jahren immer noch eine Fremde zu sein. Hier ein kleiner Ausschnitt aus dem Interview.

 

17.9. Meeting the neighbors

Gestern habe ich ein besonderes Food-Business besucht: die Living Water Hydroponic Farms in Stag Harbour. Nicht nur aus Recherche-Gründen. Auf Fogo gibt’s ja keinen Isemarkt, also wo kriege ich gutes Grünzeug und frische Kräuter? Bauer Jarrod trägt Rauschebart, Tattoos und Piercings und züchtet Salat nicht auf dem Feld, sondern in einem ehemaligen Schulhaus. Von außen sieht die Farm unspektakulär aus wie ein alter Schuppen, innen plätschert es und strahlt, die Wände sind gelb gestrichen, unter hellen Lampen hängen Plastikrohre vertikal, auf ihrer Oberseite sprießt Salat, Petersilie, Mangold und Rote Beete. Die Pflanzen stecken in kleinen durchlöcherten Röhrchen, ihre Wurzeln wachsen durch, am Boden des Rohrs fließt Wasser mit Nährstoffen. Das ganze nennt sich Hydroponik. Vom Keimling bis zur ausgewachsenen Pflanze dauert es ca. 45 Tagen. Dann pflückt Jarrod einzelne Blätter, nicht die ganze Pflanze. So wächst der Salat weiter und kann mehrfach geerntet werden. Das ganze Jahr über, auch im Winter, wenn Fogo im Schnee versinkt und auf dem Meer die Eisberge vorbeitreiben. Manche Mangoldpflanze oder Rote Beete sei schon über ein Jahr alt, erklärt Jarrod. Die Salatblätter füllt er portionsweise ab und verkauft sie über einer Supermarktkette in ganz NF, auch im Foodland auf Fogo. Die Tüte Mixed Salad kostet 5,79 $, nicht billig, aber der Salat schmeckt tatsächlich wie frisch aus dem Garten. Das Geschäft gehe gut, er wolle die Indoorfarm sogar noch erweitern. Zum Gießen recycelt er Kondenzwasser aus der Entfeuchtungsanlage. Zusätzlich will er in ein Verfahren investieren, dass Wasser aus der Luftfeuchtigkeit gewinnt, um so ganz vom Grundwasser unabhängig zu werden. Ganz schön innovativ für eine Fischerinsel am Ende der Welt. Ach ja, die löcherigen Röhrchen für die Pflanzenwurzeln druckt er selbst mit einem 3D-Printer aus. 

Heute zum Great Auk gehikt, den Wanderweg entlang der Küste zur Nordspitze der Bucht, wo eine Bronzeskulptur an einen ausgestorbenen Seevogel erinnert. Der Riesenalk, eine Art Pinguin, war einst weit verbreitet an der Küste Neufundlands und auf Fogo. Doch als die europäischen Siedler kamen, ging es ihm an den Kragen. Als flugunfähiger Vogel war er leichte Beute. 1844 wurde das letzte Paar getötet, nicht auf Fogo, sondern in Island, wo der Riesenalk auch heimisch war. Der Künstler Todd McGrain hat ihm an Joe Batt’s Point ein Denkmal gewidmet. Auf dem Rückweg stoppe ich noch bei dem kleinen Fischerei-Museum, dass Brent Coffin am Einstieg des Trails betreibt. Er stammt aus einer Familie, die um 1830 aus Südengland eingewandert sind und seit fünf Generationen vom Fischfang auf Fogo lebte. Jetzt ist er im Ruhestand, mit der Kabeljau-Fischerei geht es schon länger bergab. In seinem Minimuseum will er gerade deshalb den Leuten erklären, wie seine Familie und all die anderen Fischer auf der Insel jahrhundertelang ihre Arbeit verrichteten. Er zeigt das Handwerkszeug, Netze, Körbe, Haken, den Tisch, auf dem die Fische ausgenommen werden, wo sie gesalzen und getrocknet wurden. Dann zeigt er mir das dicke Buch, in dem die Fischhändler minutiös das Soll- und Habenkonto der Fischer auflisteten. Denn die Fischer verkauften ihre Ware nicht selbst an die Endkunden, sondern lieferten sie an die Händler ab. Die legten den Preis fest, je nach Qualität und Gusto. Bargeld bekamen die Fischer fast nie, sie wurden mit Naturalien bezahlt: Mehl, Zucker, Rum, Speck… all das, was sie zum Leben brauchten und nicht selbst erzeugen konnten. Wenn die neue Fischsaison begann, waren sie deshalb meist wieder verschuldet. Brent schlägt das Jahr 1929 auf, oben in fein geschnörkelter Schrift der Name Coffin. Das sei das Konto seines Urgroßvaters. Ich soll mal genau hinschauen: Der Wert des gelieferten Fisches sei immer exakt so beziffert, wie die Schulden, die beim Händler angeschrieben waren. Merkwürdig, oder? sagt Brent. Das altbekannte Ausbeutungssystem, das Kaufleute reich macht und die Arbeiter abzockt. Auch auf Fogo war das nicht anders.

14.9. Welcome to Fogo

Ich bin auf Fogo Island gelandet, mit der Fähre übergesetzt bei herrlichem Sonnenschein, leichtem Wind, angenehmen 23 Grad. Die nächsten Tage werde ich die Insel erkunden und mich im Tower Studio einrichten. Von dort hat man einen Traumblick auf Shoal Bay – die flache Bucht. Das Studio liegt dicht am Wasser, zu erreichen über einen Holzsteg, mitten in der Natur. Die Felsen sind mit Flechten überzogen und sehen aus wie Walfischen-Rücken. Wale tummeln sich hier tatsächlich. Mit etwas Glück kann man sie sogar vom Land aus beobachten. Im Moment sind meine Nachbarn Seeschwalben, Meerschnecken und allerlei interessantes Kraut. Zur Residency gehört auch ein gemütlichen Wohnhaus in Joe Batt‘s Arm. Das Fischerdorf im Norden hat rund 800 Einwohnern und ist damit der größte Gemeinde der Insel. Hier steht auch das Fogo Island Inn. Mich faszinieren diese Namen: Wer ist Joe Batt und was hat es mit seinem Arm auf sich? Erste Nachforschungen bringen folgendes zutage: Joe Batt soll wohl ein ziemlicher Draufgänger gewesen sein. Als Seemann auf Captain James Cooks Schiff ging er vor Fogo über Bord, ob als Deserteur oder versehentlich, ist umstritten. Jedenfalls schaffte er es an Land und wurde so populär, dass die Fogo-Leute ihn aus dem Gefängnis befreiten und die Aktion mit reichlich Bier feierten. Ein Pint Lager wird in Neufundland auch als „Arm“ bezeichnet. Vielleicht steht „Arm“ aber auch nur für die langgestreckte Form der Bucht. Eigenwillige Ortsnamen gibt‘s hier jede Menge: Eine Community heißt Seldom (also selten), die Örtchen daneben Little Seldom und Seldom Come By. Die Nachbarinsel heißt Change Island und auf dem Weg hierher kam ich an Sunnyside und Come by Chance vorbei.

13.9. Natural Boutique

Die größte Überraschung in St. John’s, der Hauptstadt Neufundlands: Hier gibt’s tatsächlich noch Geschäfte, die verkaufen alles aus Robbenfell: Stiefel, Sneakers, Jacken, Mäntel, Handschuhe, Rucksäcke, sogar Hot Pants aus Seal Skin! Die freundlichen Verkäuferinnen tragen stylische Robbenpuschen und erklären mir die Vorteile des Materials: Schmutz- und wasserabweisend, extrem warm und absolut nachhaltig. Anders als Kunstpelz, der aus Petrochemie gemacht werde und die Umwelt verschmutze. Die Robben würden auch nicht wie viele andere Petztiere in Gefangenschaft gezüchtet, sondern nur wild gefangen. Robben gäbe es mehr als genug, eine „Überpopulation“. Auch das Fleisch werde verarbeitet. Das könne man in jedem Supermarkt kaufen. Wie es schmeckt, will ich wissen. Fett, ein bisschen tranig, nicht jedermanns Geschmack. Aber es sei sehr gesund. Im Angebot haben sie auch Seal Oil-Kapseln. Die seien in Asien sehr beliebt. Eines der neufundländischen Nationalgerichte sei der „Flipper Pie“, eine Pastete aus Flossen und Knorpelgewebe der Robben. All 100 % Natural!

10.9. Gute Gastgeber

Das ehemalige Gewerkschaftshaus in Port Union dient gerade als Hauptquartier der Bonavista-Biennale, einem regionalem Kunstfestival, das sich über die ganze Halbinsel erstreckt. Unter dem  Motto „Host“, also Gastgeber, zeigen 23 kanadische Künstler ihre Arbeiten in verlassenen Fabriken, alten Kirchen, aber auch an schroffen Küstenstreifen oder im stillgelegten Schiefersteinbruch. Ich gehe zuerst zu Megan Samms, einer Textilkünstlerin mit strahlendem Lächeln und eindrucksvollen Ganzkörper-Tattoos. Sie gehört zum Volk der Mi’kmaq, ist Expertin für alte Web- und Färbetechniken. Im FPU Arts Center lädt sie zum „Indigo Social“, eine Art Kaffeekränzchen mit Batik-Action. Auf einem langen Tisch liegen die nötigen Utensilien: Baumwolltücher, Gummibänder, Wäscheklammern, Nadel, Faden, Schere. Dahinter zwei Plastikbottiche mit schlammig-brauner Brühe. Nach kurzer Anleitung geht’s los: Tücher falten, abklemmen, Muster sticken, verknoten, vorsichtig ins warme Indigo-Bad tauchen. Aus stillen Kunstbesuchern werden aufgekratzte Kreative, die Färbeerfolge beklatschen, über blaue Hände lachen und sich nebenbei ihre Lebensgeschichten erzählen. Die Indigo-Pflanzen baue sie auf ihrer Farm im Cordroy Valley selbst an, erzählt Megan. Und mahnt geduldig, dass die Indigo-Lauge nicht durch hektisches Geplansche aufgewühlt werden darf. Alles mit Ruhe, sonst klappt das mit dem Färben nicht. Draußen hat sie mit ihrer Fahnen-Installation noch eine klare Ansage hinterlassen. Auf dem rot gefärbten Leinentuch steht in fein applizierten Lettern: WE ARE STILL YOUR HOSTS. Soviel zur Frage, wer hier Gast und wer Gastgeber ist.

Viele der Künstler haben indigene Wurzeln und thematisieren die Vertreibung der Ureinwohner und den Raubbau an der Natur. Zu den eindringlichsten Werken, die ich auf der Rundfahrt zu den verschiedenen Biennale-Stationen entdecke, gehört Billy Gauthiers geschnitzte Skulptur The Earth, Our Mother aus dem Schädel eines Finnwals. Der verwitterte, tonnenschwere Knochen ist ein Fundstück. In die glatte Vorderseite hat Gauthier ein Gesicht geschnitten, das Loch des Rückenmarkskanals ist nun der Mund der Mutter Erde. Rundherum sind Elemente eingraviert, die den Inuit heilig sind: Sonne und Mond, Wolken und Wind, Meer, Seehund, Federn einer Schneeule. Alles extrem detailgetreu und organisch aus der Schädelform entwickelt. Die Skulptur wirkt im ehemaligen Hardware Store in Elliston wie ein mysteriöses Totem: majestätisch und zerbrechlich, zart und kraftvoll. Magisch wirken auch die großen Stofftransparente, die AK Maston an einer Steilwand im Schiefersteinbruch befestigt hat. Die vergrößerten Abbildungen von seltenen Fossilien aus der Gegend und eine geisterhafte Riesenmotte spiegeln sich malerisch im Wasser. 

Das vielleicht beste an dieser Biennale ist, wie elegant sie die Gegenwartskunst mit lokaler Historie verwebt. Bevor ich Wally Dions flirrend schöne Grass Quilts im alten Salzlager besichtige, streife ich durch die Ryan Premises, ein Fischereimuseum in historischen Gebäuden am Hafen von Bonavista. Cynthia G.Renards trauriger Geschichte eines Spermwals namens Thryphon lausche ich im imposanten Versammlungssaal der Loyal Orange Lodge, einst Sitz einer einflussreichen irischen Bruderschaft. Kompliment an die Kurator:innen: Ryan Rice und Rose Bouthillier. Spannende Künstler entdeckt und was über Neufundlands Geschichte gelernt! 

9.9. Utopia

Port Union hat eine einzigartige Geschichte. Das verschlafene Kaff war einmal ein bedeutender Fischereihafen – und eine revolutionäre Modellstadt. Übrig geblieben sind davon ein paar leerstehende Wohnhäuser, verlassene Fabrikgebäude und eine grüne Villa. Erbaut wurden die Hafenanlagen und Wohnhäuser von der Fishery Protective Union, kurz FPU, der einst mächtigen Fischergewerkschaft und ihrem Boss William Coaker in 1918. Über dessen Namen stolpere ich beim Rundgang immer wieder: Da ist die Coaker Lodge, die Sir William Coaker Bridge, das Coaker-Museum… Ein enthusiastischer Tourguide rattert im hartem Neufundland-Akzent die ganze irre Geschichte dieses Mannes runter: Coaker, cleverer Geschäftsmann, charismatischer Networker, Fischerei-Minister, glühender Sozi, wollte die Fischer aus der Knechtschaft der Händler befreien, faire Preise und angemessene Wohnungen für Gewerkschaftsmitglieder schaffen. Dafür kaufte er Land, baute Kraftwerke, moderne Fabriken mit elektrisch betriebenen Aufzügen und Fischtrocknungsanlagen, anständige Wohnhäuser für die Fischereiarbeiter, er gründete Coop-Läden, Tischlereien, brachte elektrisches Licht in die Haushalte, noch bevor in New York die Lichter angingen. Und er gab eine eigene Zeitung heraus, The Fisherman’s Advocate, um der Welt von seinen Errungenschaften zu berichten. Die mächtige Druckerpresse und die Bleisatzmaschinen sind noch da, genauso wie die Motoren und Sägen der Holzwerkstatt, heute Museumsstücke. Ende der 70er Jahre endete mit dem Niedergang der Fischerei der sozialistische Traum. Die Gerwerkschaftshäuser verfielen, die Fabriken wurden schlossen. Heute ist die Stadt historisches Denkmal, die Häuser werden renoviert, Coaker als visionärer Held gefeiert. Ich frage mich, wie das alles zusammengeht: Sozi und Fabrikbesitzer? Segelyacht, Plantagen auf Jamaika und Gewerkschaftsbüchlein.

8.9. Bonavista ahead

Mein erstes Ziel ist Bonavista, eine Halbinsel im Nordosten. Mit dem Auto rauf auf den Trans Canadian Highway Richtung Osten. Keine fünf Minuten vom Flughafen Gander bin ich mittendrin in Neufundlands Wildnis. Strubbeliges Nadelgehölz, dichter Nebel, alles feucht, der Himmel grau. Darunter schlängelt sich der Highway wie ein graubraunes Band durch die unspektakuläre Landschaft. Kein Haus, keine Raststätte, kein Verkehr. Auf Felsrücken wachsen gelbgrüne Flechten. Manchmal öffnet sich ein Panorama mit dunklem See, ein Fjord mit Holzhäusern und Bootsstegen. Meist aber ist alles menschenleer. Am frühen Abend komme ich in Port Union an. Aus dem Fenster des Harbour Inns schaue ich auf die Bonavista Bay und die stillgelegte Fischfabrik. In der Pension, ein hübsches Holzhaus von 1918, soll man auf Socken laufen. Zum Glück habe ich davon ja jetzt wieder genug. Abends noch was zu Essen zu bekommen, ist eine Herausforderung. Der Fireside Dining Room, das einzige Restaurant im Ort, schließt um 20 Uhr. Also schnell hin. Die einzigen anderen Gäste sind schon beim Desert, die Bedienung räumt den Kuchen aus der Auslage. Ich bestelle Fish Cakes. Schlicht zubereitet, aber gut. Ich frage die Kellerin nach den Zutaten: Kartoffelbrei und Kabeljau. Ob es da wohl eine Verbindung zu spanischen Croquetas gibt, die ja auch aus Kartoffeln und Bacalau gemacht werden? Weiß sie nicht, aber den Namen meines Parfums würde sie sich gern notieren. 

6./7.9. Lost & Found

Das Abenteuer beginnt mit einer Panne: der dicke Koffer, in dem alles für meine zwei Monate auf Fogo steckt, ist weg. In Toronto wollte ich eigentlich nur umsteigen auf eine regionale Fluglinie. Jetzt fehlt der Koffer. In Dublin geblieben, sagt die Frau am Counter. Er würde mir nachgeschickt, versichert sie. Doch an welche Adresse sollte sie ihn schicken, wo ich doch die nächsten Tage on the road bin. Kleine Erkundungstour durch Neufundland, bevor ich nach Fogo Island übersetze, so war der Plan. Neufundland ist mit 110000 qkm fast so groß wie Griechenland und noch viel abgelegener. Und jeder, dem ich begegne, hat eine Horror Story über verlorenes Gepäck parat. Also neuer Plan: Anschlussflug umbuchen, Gepäck-Leute beknien, Formuare ausfüllen, in Telefonschleifen hängen, im Airport Hotel einchecken, emergency shopping: Socken, Unterhosen. Airport-Chaos statt Wildnis, Fegefeuer der modernen Reisenden. In Toronto sind 30 Grad, ich bin mit Wanderboots und dicker Strickjacke aus dem Flieger gestiegen. Aus dem Hotelfenster sehe ich die ankommenden Maschinen und bete, dass mein Koffer mitkommt. Mehrmals fahre ich mit dem Shuttlebus zum Terminal, versuche jemanden von der Airline dingfest zu machen. Langsam kenne ich mich aus, ganz hinten, versteckt im Ankunftsbereich Domestic Flights finde ich das Büro von Swissport. Die sind dazu da, verlorene Koffer mit ihren Besitzern zu vereinigen. Auch kein easy Job. Ich belagere die Ladies (im Verlorenen-Koffer-Büro arbeiten offenbar nur Frauen), biete Kaffee an, bequatsche sie so lange, bis sie ernsthaft nach meinem Koffer suchen – vermutlich um mich endlich loszuwerden. Don‘t worry, we‘ll get your suitcase. Go and take a walk, enjoy the sunshine, sagt eine. Der Koffer sei auf dem Weg, sie werde sich persönlich darum kümmern, dass er als Rush Delivery ins Hotel geschickt wird. Also fahre ich in die Stadt, ein. bisschen. Kunst gucken, auf andere Gedanken kommen, thanks to Brian Jungen. Sein Couch Monster vor der Art Gallery of Ontario lässt mich schmunzeln, drinnen trösten Bilder von Wolfgang Tillmans, der in der AGO eine große Retro hat. Zurück im Hotel: kein Koffer da. Dafür ruft mitten in der Nacht der Customer Service aus Dublin an. Am nächsten Abend dann steht ein Bote mit dem Koffer vor meiner Hotelzimmertür. Ich falle ihm vor Freude fast um den Hals. Die Gepäck-Ladies haben Wort gehalten. Der Road Trip kann beginnen!