In seinen Fotos rollen mysteriöse Wellen durch den dunklen Wald. Jetzt gibt’s dazu eine Ausstellung und ein tolles Künstlerbuch
Vor ein paar Jahren pirschte Fotokünstler Jörg Gläscher mit seiner Kamera durch den Sachsenwald. Er suchte Motive für die beklemmende Stimmung im Corona-Lockdown. Irgendwie auch nach einer physischen Herausforderung in Zeiten des verordneten Stillstands. Im Wald kam ihm die Idee, aus herumliegenden Ästen und Bruchholz eine mannshohe Welle zu errichten, ohne Maschinen, ohne fremde Hilfe. Nur mit eigenem Körpereinsatz und dem Material, was so im Wald rumlag. Das war die Geburtsstunde seines Waves-Projekts. Inzwischen hat er zwölf Wellenstrukturen im Wald gebaut, unter schweißtreibendem Einsatz, manchmal mit Helfern, immer mit dem Ziel, sie nach Vollendung fotografisch festzuhalten. Danach baut er die Skulptur wieder ab oder recycelt das Material für den nächsten Wellenbau. Die entstandenen Bilder sind schön und irritierend zugleich. Der Wald wirkt leblos, fast unheimlich, die Welle aus Ästen unwirklich. Dennoch ist sie kein Fremdkörper. Sie ist aus Wald gemacht und passt perfekt in die Landschaft. Störung durch Mimikry. Beim Betrachten werden widerstrebende Assoziationen getriggert: Romantik meets Katastrophe, Manipulation schlägt Natürlichkeit, das Meer ist aus Holz.
Jörg Gläscher kommt ursprünglich von der Dokumentarfotografie. Wir kennen uns noch aus Zeiten, als er nicht seine eigenen Skulpturen fotografierte, sondern die Kunst anderer Leute. Als Reporterteam waren wir auf der Venedig-Biennale unterwegs, sind im Iran der versteckten Kunstsammlung des Schahs hinterhergejagt und in Island bei Regen und Schnee dem isländischen Künstler Ragnar Kjartansson. Inzwischen hat er dem Fotojournalismus abgeschworen und verwirklicht eigene künstlerische Projekte. Mit Erfolg. Sein weltumspannendes Fotobuch Der Eid/The Oath über Staatsdiener und Demokratieverständnis wurde 2022 von der Stiftung Buchkunst als „eines der schönsten deutschen Fotobücher“ ausgezeichnet.
Auch sein neustes Künstlerbuch, Twelve Waves/Zwölf Wellen, ist ein Hingucker. Es präsentiert Gläschers energiegeladene Wald- und Wellenwerke auf extradickem Bilderbuchkarton. Als großformatige Fotoarbeiten sind die Wellen derzeit in der Ausstellung Panta reih. Wasser bewegt im Stadtmuseum Paderborn zu bewundern (bis 21.1.2024). Dort hat der Künstler auch eine weitere Welle in natura errichtet, die bis zum Ende der Schau den historischen Klostergarten flutet.
Mehr zum Wellen-Projekt gibt es in dem Interview, das ich mit Jörg Gläscher für das Buch geführt habe. Hier ein Auszug:
Mit der Axt in den Wald gehen, Baumstämme im Regen durch den Schlamm zerren – das klingt alles ziemlich archaisch-männlich. Wie wichtig ist die physische Challenge bei diesen Projekten?
Das gehört zum Entstehungsprozess der Arbeit dazu. Ich fälle für diese Arbeit keine Bäume, das ist mir wichtig. Aber ich schleppe die toten Äste aus dem ganzen Wald heran. Es ist ein meditativer Prozess, der dabei körperlich auch sehr anstrengend ist. Dieses Gefühl, allein und in aller Stille mit der Arbeit zu sein, ist nochmal etwas ganz anderes – vor allem, wenn man im Herbst in einem dunklen Wald arbeitet. Dann ist man ganz bei sich und seiner Arbeit.
Wellen sind ja sehr symbolträchtig, nicht nur im sprachlichen Sinne. In der Kunstgeschichte bilden Gemälde mit Meereswellen ein eigenes Subgenre der Landschaftsmalerei. Und natürlich gibt es die weltberühmte Welle von Katsushika Hokusai, eigentlich ein japanischer Farbholzschnitt aus dem 19. Jahrhundert. Sie hat sogar ein eigenes Emoji. Spielst du mit dieser popkulturellen Ikonografie?
Natürlich schaue ich links und rechts, was es für Bezüge gibt. Ich habe mir auch viele Seestücke angeschaut – nicht so sehr die Gemälde von Seeschlachten, sondern eher das einsame Segelschiff im Kampf mit den Naturgewalten. Das fasziniert mich, weil ich auch selbst Segler bin. Gerade Hokusais Welle hat eine unglaubliche Verbreitung, von Emojis bis zum Motiv auf Kaffeetassen. Ich hatte auch eine Millisekunde lang überlegt, diese ikonische Welle nachzubauen. Aber als ich dann allein im Wald war, ist mir schnell klar geworden, dass ich mich von diesen kunsthistorischen Verbindungen lösen muss. Ich muss das nicht zitieren. Diese Bilder sind im kollektiven Gedächtnis. Meine Arbeiten stehen für sich.
Deine Wellen stehen nicht nur im Wald, sie sind aus Wald gemacht. Da drängen sich noch andere kulturhistorische Fragen auf: Der deutsche Wald ist ja ein durchaus kontroverses Topos, Inspirationsquelle für Dichter und Denker, Schauplatz von Grimms Märchen. In der Romantik wurde er zur Projektionsfläche für Freiheit im Gegensatz zur strikten Gesellschaftsordnung, im Faschismus zum nationalistischen Symbol. Heute klettern Klimaaktivisten zum Schutz des Waldes auf die Bäume. Wie positionierst du dich in diesem stark besetzten Terrain?
Zwangsläufig muss man darüber nachdenken. Wie schon erwähnt, hat mich die Arbeit an dem Corona-Komplex im Wald fotografisch befreit. Sie hat mich zu neuen Wegen geführt. Ich muss aber gestehen, dass ich den dicken kulturhistorischen Balken, der über dem Begriff »Wald« liegt, nicht mit in den Wald genommen habe. Das Projekt ist keine nach einem kulturhistorischen Drehbuch gelegte Struktur. Auch wenn ich Erlebnisse wie aus einem Märchenbuch hatte: Wenn die Sonne scheint, man auf einer malerischen Moosfläche Pause macht, hinten im Holz steckt noch die Axt und auf einmal kommt ein Reh vorbei. Oder wenn sich ein Gewitter zusammenbraut und die Bäume knarren. Da überlegt man schon, ob das majestätische Kreaturen sind oder nur tote Materie. Es kommen auch Angstfantasien hoch. Aber die Frage im ewigen Kunstdiskurs bleibt: Muss ich alle kulturhistorischen Bezüge kennen und über sie arbeiten, um mein Werk dann davon abzugrenzen? Ja und nein. Oder lehne ich vorher die Tür an, lasse das draußen stehen und gebe die Frage an den Betrachter weiter.
Ich glaube, um den Romantikbegriff kommen wir nicht herum, wenn wir deine Bilder betrachten. Sie strahlen etwas düster Romantisches aus. Die weiterführende Frage wäre, willst du eine Störung erzeugen? Oder geht es dir eher um Harmonie?
»Eine Welle ist eine sich räumlich ausbreitende periodische Schwingung oder einmalige Störung des Gleichgewichtszustands«, so die wissenschaftliche Definition. Also ist eine Welle eine Störung per se. Auch eine hölzerne Wellenstruktur in einem winterlichen Wald ist eine Störung. Aber diese Störung fügt sich harmonisch in die Umgebung ein und arbeitet nicht gegen sie. Man könnte sagen, die Störung ist im Fluss. Beim Setting im Wald ist das Faszinierende, dass da gedanklich die mikroskopische Möglichkeit aufblitzt, diese Holzstruktur könnte durch einen Windstoß entstanden sein. Ganz ohne Menschenhand. Anders wird es im Stadtmuseum Paderborn sein, dort installiere ich eine Welle im Klostergarten, im urbanen Umfeld. Es wird sich zeigen, was diese Störung ergibt.
Jörg Gläscher: Twelve Waves/Zwölf Wellen ist erschienen bei Hartmann Books und kostet 34 Euro.