Inside Bodø: Kunst jenseits des Polarkreises

Midsummer Mystery, Performance by Walk the Plank Foto: Bodø 2024

Wie eine verschlafene norwegische Hafenstadt zur Kulturhauptstadt Europas wird. Und was es dort zu entdecken gibt

Kennst du Bodø? Vor einem halben Jahr hätte ich noch irritiert den Kopf geschüttelt. Wo soll das sein? Die norwegische Kleinstadt Bodø (ausgesprochen wie Buude) liegt 80 Kilometer nördlich des Polarkreises in eisiger Fjordlandschaft, hat rund 54000 Einwohner – und ist Kulturhauptstadt Europas 2024! Gerade bin ich von dort zurückgekehrt nach einer Woche mit überraschenden Ausstellungen und Performances, Einblicken in Privatsammlungen und Underground-Museen, Ausflüge in atemberaubender Landschaft, Baden im eiskalten Salzfjord, Cocktails unter glühender Mitternachtssonne… Kurzum: ich bin schockverliebt in Bodø! Nicht nur wegen des spannenden Kulturprogramms, sondern auch wegen vieler unerwarteter Dinge. Zum Beispiel, dass man in nur zehn Minuten vom Flughafen zu Fuß zum Hotel am Hafen laufen kann – mit Rollkoffer und Meerblick. Dass alle, ob Busfahrer, Kellner oder Bademeisterin, unglaublich freundlich sind (ist man aus Berlin eher nicht gewöhnt). Oder dass es in der nordischen Provinz so etwas gibt wie Craig Alibones Pâtisserie & Champagneria, ein cooles Café mit hausgemachten Macarons und Champagner, wie man das in Paris nicht besser finden könnte.

Tatsächlich bin ich wegen der Kunst in den hohen Norden gekommen. Bodø ist als erste Stadt jenseits des Polarkreises zur Kulturhauptstadt Europas ernannt worden (sie teilt sich den Titel mit Bad Ischl in Österreich und Tartu in Estland) und lässt sich das EU-Festival 310 Millionen Kronen kosten, umgerechnet rund 26 Millionen Euro. Geplant sind über 1000 Veranstaltungen, Konzerte und Filmprogramme, Land Art-Projekte, Kunstausstellungen und auch das bunte Midsummer Mystery-Spektakel mit Trollen, Elfen und Feuerwerk der britischen Performance-Truppe Walk the Plank am Breyvika-Strand. Ein Schwerpunkt ist der Kultur der Sámi gewidmet, den skandinavischen Ureinwohnern. Neben Ausstellungen zeitgenössischer Sámi-Künstler steht dabei auch die unrühmliche Kolonialgeschichte Norwegens im Blickpunkt. Die indigenen Völker, die seit Jahrtausenden auch in der Gegend von Bodø zuhause waren, wurden diskriminiert, verdrängt, zwangsassimiliert. Seit den 1970er Jahren regt sich Protest, heute sind Sámi-Rechte und die Auseinandersetzung mit vergangenem Unrecht ein nationales Thema.

Im Bodø Museum laufen gerade zwei Ausstellungen zur der Thematik. Im oberen Stockwerk gibt die Schau Creating the Right Space einen Überblick über traditionelles Sámi-Kunsthandwerk – Fellmützen, Trachten, geschnitzte Trinkgefäße, Schmuckkästchen aus Rentierknochen. Unten hat sich Joar Nango mit seiner nomadischen Sámi-Bibliothek Girjegumpi eingenistet. Der norwegische Multi-Media-Künstler und documenta-13-Teilnehmer forscht zu indigener Architektur und lädt in seinen meändernden Environments zum postkolonialen Dialog ein. Wie anregend das sein kann, erlebe ich abends bei einer Sound-Performance. Nango hat befreundete Musiker:innen eingeladen. Zuerst steht Jason Singh hinter den Mischpult, ein Beatboxer und fantastischer Soundtüffler aus London. Er hat in Bodø Naturgeräusche aufgenommen, Meeresrauschen, Wind, Vogelgeschrei, und mischt es mit seinen Stimmkapriolen. Dazwischen mixt er Auszüge aus Reden von Global South-Aktivisten. Den zweiten Act bestreiten zwei Sámi-Frauen mit schwarzem Lippenstift und unnahbarer Attitüde. Charlotte Bendiks, die sonst im Berghain dejayed, mixt an den Synthi-Reglern harte Beats und Trance-Rhythmen, Marita Isobel Solberg grummelt und kreischt hexenhaft wie Diamada Galás, kann ihren Sopran aber auch im einen Gänsehaut-Vibrato erklingen lassen.

Einen Gänsehaut-Moment ganz anderer Art beschert mir der Besuch der Bodøgaard Gallery, einem wildromantischem Privatmuseum am Stadtrand von Bodø. Die Bodøgaards sind eine lokale Künstlerfamilie, Harald, der mich zusammen mit seiner Tochter Selma durch die Ausstellung führt, ist Bildhauer. Seine abstrakten Steinskupturen stehen nicht nur zwischen duftenden Heckenrosen im Garten, sondern auch vor der neuen Stadtibliothek am Hafen. Auch sein Vater Oscar Bodøgaard war ein bekannter norwegischer Künstler, wegen seiner leuchtenden, halbabstrakten Landschaften nannte man ihn „Maler des Lichts“. Im weitläufigen ehemaligen Atelier sind nun Bilder von Peder Balke zu sehen, einem lange verkannten Pionier der Moderne und Zeitgenossen Casper David Friedrichs, der 1832 zu Malstudien bis ans Nordkap reiste. Seine kleinformatigen, magisch-verschwommenen Bilder erinnern an Gerhard Richter. Zum Bodøgaard-Komplex gehört auch ein Print-Workshop, in dem auch Königin Sonia schon mal ihre großformatigen Holzschnitte druckt. Fast noch interessanter ist jedoch das Underground-Museum: Im Keller wuchert eine wilde Sammlung von Alltagsgegenständen aus der Gegend, Spardosen, Werkzeuge, Schlitten, Stickhandschuhe, Holzlöffel, Töpfe, Uniformen. Der Großvater hat damit begonnen, offenbar auch, um sein Kriegstrauma zu überwinden. Die Familie wurde 1940 von deutschen Besatzern aus ihrem Bauernhof vertrieben, die Nazis errichteten dort ein Lager für russische Kriegsgefangene. Als sie sich 1944 zurückziehen, hinterlassen verbrannte Erde. Ganz hinten im Keller hängen Zeugnisse der Nazi-Greuel, die Oscar Bodøgaard zusammengetragen hat: Fotos von zerbombten Häusern, von Toten, das Essgeschirr der Gefangenen, Zerstörungsbefehle, Minenpläne… Deutschlands dunkle Geschichte, selbst an entlegenen Orten ist sie nicht fern.

Übrraschendes bietet auch die Adelsteen Normann Collection. Das Museum in einer großbürgerlichen Villa ist einem fast vergessenem Maler aus Bodø gewidmet: Adelsteen Normann (1848-1918) liebte Fjorde, Berge, glühende Mitternachtssonnen. Mit diesen Motiven war der norwegische Maler, der an der Düsseldorfer Akademie studierte und später in Berlin lebte, super erfolgreich. Er stellte auf den Pariser Salons aus, war bei allen Weltausstellungen dabei und Mitbegründer der Berliner Secession. In die Geschichte eingeschrieben hat er sich allerdings als Protegé eines anderen weltberühmten Norwegers. 1892 lud er Edvard Munch zu seiner ersten Ausstellung in Berlin ein. Sie war der Talk of the Town und kickstartete Munchs Karriere. Normann selbst bleib dem romantischen Realismus verhaftet, auch wenn er die junge Avantgarde und die Impressionisten in Paris bewunderte. Kaiser Wilhelm II war ein großer Fan, besuchte ihn mit seiner Hohenzollern-Yacht in Norwegen und kaufte seine Bilder. Normanns Werke sind heute noch in Museen weltweit vertreten, meist jedoch schlummern sie im Depot. Denn der Künstler, der 1918 an der Spanischen Grippe starb, wurde posthum auch zum Lieblingsmaler von Adolf Hitler, der seine Fjordlandschaften fürs Führermuseum in Linz sammelte. All das erzählt mir, Kjell Jenssen, ein liebenswürdiger Herr, der sich ehrenamtlich um das Museum kümmert. Als Fun Fact erwähnt er noch, dass sich auch in Michael Jacksons Nachlass ein Normann-Gemälde befand, dass für 276000 NOK in LA versteigert wurde.

Zum Schluss noch ein heißer Tipp für zeitgenössische Kunst: In den hohen, lichten Räumen eines ehemaligen Gemeindehauses hat sich das Atelier NŌUA eingerichtet, eine ambitionierte Galerie für zeitgenössische Fotografie, die von Marianne Bjørnmyr und Dan Mariner, einem britisch-nrowegischen Künstlerpaar, gegründet wurde. Gerade läuft dort eine tolle Schau der Londoner Fotokünstlerin Steffi Klenz. Ihre abstrakten Fotocollagen, die von der Architektur Bruno Tauts inspiriert sind und an feine Lackarbeiten erinnern, hängen an semi-transparenten Papierwänden. Klenz hat in Japan eines der wenigen erhaltenen Häuser des deutschen Archtitekten fotografiert und über den Einfluss der lokalen Ästhetik auf seine Baukunst recherchiert. Auch ein enthusiastischer Tintenfisch und mamoriertes Japanpapier spielen bei der Bildfindung eine Rolle. Alles kunsttheoretisch so unterfüttert und präzise inszeniert, dass es ohne weiteres auch in eine Galerie in London oder Berlin passen würde. Tatsächlich wurde die Ausstellung kuratiert von Michael Raymond, einem „Assistent Curator International Art“ an der Tate Modern.