Ryūsuke Hamaguchi: Evil Does Not Exist

Eisige Natur als Spiegel der Seele

In Venedig gewann er letztes Jahr den Goldenen Löwen. Jetzt kommt Hamaguchis lakonisch-suggestive Ode an die Natur in die Kinos

Kann aus einem Musikvideo ein didaktischer Naturschutzfilm werden, eine einfühlsame Gesellschaftsparabel, und auch noch ein schockierendes Familiendrama? Warum nicht, mag sich Ryusuke Hamaguchi gedacht haben, als er vor zwei Jahren in einem japanischen Bergdorf Videomaterial für die Komponistin Eiko Ishibashi drehte, dass eigentlich nur ihre Live-Performances untermalen sollte. Aus dieser Zusammenarbeit ist Evil Does Not Exist entstanden, ein hybrider Spielfilm, der die scheinbar gegensätzlichen Genres zusammenbringt und von Naturverbundenheit, abstrusen Tourismusprojekten und der Liebe eines alleinerziehenden Vaters zu seiner Tochter erzählt.

Die Entstehungsgeschichte ist deshalb wichtig, weil sie eine Wende im Schaffen des japanischen Regisseurs markiert. Hamaguchi ist für wortreiche, literarische Stoffe bekannt. Sein letzter Film, Drive My Car, basierte auf einer Kurzgeschichte des japanischen Schriftstellers Haruki Murakami und spielte wie fast alle seine Werke im urbanen Milieu. Evil Does Not Exist beginnt dagegen mit einer Fahrt durch menschenleere frostige Natur. Die Kameraperspektive nach oben gerichtet gleiten wir vorbei an Bäumen, die ihre kahlen Äste in den grauen Himmel strecken. Es sind die Augen von Hana (Ryo Nishkawa), einem achtjährigen Mädchen, mit denen wir den winterlichen Wald betrachten. Arglos stapft sie durch die verschneite Landschaft, streichelt Baumstämme, beobachtet Rehe im Unterholz.

Hana lebt mit ihrem Vater Takumi (Hitoshi Omika) in einem Bergdorf in Japan. Er ist ein schweigsamer Handwerker,  der in der Gemeinde verschiedenste Aufgaben übernimmt: Quellwasser für das örtliche Nudelrestaurant schöpfen, Holz hacken, Wildkräuter sammeln. Auch um seine Tochter kümmert er sich mit wortloser Zuneigung. Wenn sie nach Schulschluss einfach losläuft, anstatt zu warten, bis der Vater sie mit dem Auto abholt, schimpft er nicht, sondern geht ihr im Wald entgegen und trägt sie huckepack nach Hause. 

Die Out-Door-Szenen filmt Ryusuke aus der Distanz in langen ruhigen Einstellungen. Zunächst gibt es so gut wie keine Dialoge. Stattdessen werden die Naturbetrachtungen untermalt von Ishibashis wehmütigen Streicher- und Pianoklängen. Dann ein harter Schnitt, die schwelgerische Musik bricht ab und wir landen bei einer Gemeindeversammlung, wo ein abstruses Tourismusprojekt verhandelt wird. Ein Unternehmen aus Tokio will mitten im Wald einen „Glamping Ressort“ errichten, einen Luxus-Campingplatz für betuchte Städter, die Entspannung in aufgehübschter Naturkulisse suchen. Dazu sind zwei PR-Leute angereist, die sich den Fragen der Bürger stellen. Ihre Bedenken, zu viele Touristen könnten der Natur schaden, ihr Wasser verschmutzen und das Waldbrandrisiko erhöhen, tragen die Dorfbewohner mit größter Höflichkeit vor. Und werden mit watteweichen PR-Floskeln abgespeist. Schnell wird klar: die Glamping-Unternehmer sind nicht wirklich an Dialog oder Naturschutz interessiert, sondern nur an schnödem Profit. 

Mit der langen Dialogsequenz, die wie das Re-Enactment echter Bürgerproteste inszeniert ist, verändert sich die Stimmung des Films. Hamaguchi wendet sich den Menschen zu, die um die richtige Nutzung der Natur ringen. Der stille Wald, durch den wir anfangs streiften, ist kein unberührtes Paradies, sondern eine von Menschen bewirtschaftete Enklave. Mit den üblichen Interessenskonflikten. Den Culture Clash zeigt er in Andeutungen, nicht in großen Auseinandersetzungen. Da sind die mysteriösen Gewehrschüsse von irgendwelchen unsichtbaren Jägern im Wald, da ist die viel zu rote Daunenjacke des Glamping-Vertreters, der langsam an seiner Mission zu zweifeln beginnt. Ganz nebenbei erfahren wir auch, dass viele Dorfbewohner noch gar nicht so lange in der Gegend leben, sondern selbst Stadt-Aussteiger sind und deshalb  allergisch auf das Tourismus-Projekt reagieren, dass ihren neuen Lebensstil bedroht.  

Bevor die Geschichte komplett abdriftet in einen didaktischen Gesellschaftsdiskurs und achtsames Landleben gegen hedonistische Stadtkultur ausspielt, dreht der Film erneut eine überraschende Volte. Und lässt das sorgsam aufgebaute Handlungsgerüst krachend einstürzen. Plötzlich wird ein Kind vermisst. Hana ist wieder mal allein in den Wald gelaufen und nie zuhause angekommen. Das ganze Dorf hilft bei der Suche, auch die beiden Fremden aus der Stadt. Die Stimmung kippt auf Psychothriller. Wir sind wieder im stillen Wald, am zugefrorenen See, über den der Vollmond sein kaltes Licht ergießt. Von einem Dornbusch tropft Blut, Hana starrt auf einen angeschossenen Hirsch. Kurz darauf sind zwei Menschen tot. Kurzschlusshandlung eines verzweifelten Vaters? Oder vielleicht nur ein flirrender Fiebertraum. Ein Schock jedenfalls, den auch Ishibashis schöne Musik nicht wirklich abfedern kann.

Es geht hier eben doch nicht um romantische Naturverklärung oder moralisierenden Öko-Aktivismus, auch wenn Hamaguchi diese Themen aufgreift und in besondere Schwingungen versetzt. Der Wald ist in diesem Film vor allem ein Sehnsuchtsraum. Und Katalysator für elementare Gefühle. Mit dem surrealen Ende werden wir dann unsanft auf die elementarste aller Kinoerfahrungen zurückgeworfen: Alles nur Illusion! Mit dem Filmtitel hatt uns der Regisseur ja bereits vorgewarnt: Das Böse gibt es nicht. Und eine eindeutige Message auch nicht.