Es soll ja immer noch Leute geben, die glauben, Kurzfilme sind nur was für Anfänger: Probierstücke von Studierenden, die eigentlich großes Kino machen wollen. Schon klar, auch berühmte Regisseure wie Agnes Varda oder Martin Scorsese haben klein angefangen. Doch Kurzfilme sind eben auch hohe Kunst, ein schillerndes Genre mit eigener Geschichte. Wenn man auf die Ursprünge des Kinos schaut, waren kurze Filme sogar lange die Regel und der Langfilm die Ausnahme. Ich sage nur: Buster Keaton.
Branchentreff der Short-Film-Szene
Wie lebendig und vielfältig die Short-Film-Szene ist, zeigte sich gerade wieder auf dem Kurzfilmfestival Hamburg, das in diesem Jahr seine 39. Ausgabe feierte – unter Leitung von Maike Mia Höhne und Sven Schwarz und mit dem selbstbewussten Motto: NOW. Mit rund 260 Filmen, neun Preiskategorien und umfangreichem Begleitprogramm, Talks, Ausstellungen, Partys, ist das Festival ein Must-Be-Event: Schaubühne, Spielplatz und Branchentreff der internationalen Kurzfilmgemeinde. In den teilnehmenden Kinos und im Festivalzentrum, einem ehemaligen Postgebäude im Brutalismus-Stil, aufgehübscht mit Plüschsofas, Sitzsäcken, Blumenschmuck und Cocktailbar, herrschte fünf Tage lang reger Andrang und turbulentes Treiben bis tief in die Nacht. Wo sonst auch kann man an einem einzigen Tag Dokumentarfilme über queeres Leben in Afganistan oder Teenage Sexworker in Texas sehen, eine kinetische Lichtinstallation aus Chicago, Lecture Performances über KI und künstliche Bildgenerierung vom Hamburg Animation Club? Und später in lauer Sommernacht mit einem Erdbeer-Daiquiri in der Hand dann noch zuschauen, wie unter freiem Himmel ein knisterndes Feuerwerk von Kurzfilmen über die Nacht abbrennt?
Die „Triple Axel“-Screening, bei denen das Publikum aus 23 Filmen, die nicht länger als drei Minuten dauern, einen Gewinner kürt, gehören zu den beliebtesten Sektionen des Festivals. Tatsächlich startet die Vorstellung mit explodierenden Feuerwerkskörpern in Abrisshäusern, gedreht auf alten 16mm-Material in Schwarzweiß – ein Experimentalfilm von Eginhartz Kanter. Darauf folgt eine kurze Geschichte über unerfüllte Liebe (Adams Vaicis: The Evenings Entertainment), ein Animationsfilm über kindliche Albträume (Micha Gress: Mr. Kuddles), ein witziger Horrorstreifen mit Grabräuber und mörderischem Skelett (Teemu Saarinen: Bingo), gefolgt von einem flirrend-abstrakten Stadtpnorama (Rafaela Range: Lights) und einer aus den visuellen Fugen geratenen Karussellfahrt (Esther Weber: Big Monster) – also Böller, Heuler und Wunderkerzen am laufenden Band. Der Publikumspreis geht schließlich an den britischen Film The Terminator von Simon Ellis, eine entzückende Himmelsforscher-Geschichte, in der ein neunjähriger Junge seiner kleinen Schwester die Geheimnisse der Planeten erklärt.
Das Festival spiegelt aktuelle Diskurse
Was das Themenspektrum angeht, spiegelt das Festival die aktuellen Diskurse, Transgender, Diversity, Klimaschutz, Künstliche Intelligenz, oft mit poetischen Mitteln und großer Dringlichkeit. Von der Zerstörung natürlicher Resourcen und den Gefahren selbstlernender Systeme erzählt etwa der Gewinner des Deutschen Wettbewerbs: Rita Macedo führt uns mit ihrem 25-minütigen Film Farewell Recording for an Observer of an Unknown Time and Place mit betörenden Landschaftsaufnahmen und Kamerafahrten in eine unbekannte Zukunft, in der unser Planet zerstört und die Erinnerungen daran als „invasive Simulationen“ verbreitet werden bis ins ferne All. Dazu liefert eine Computerstimme aus dem Off die melancholische Abschiedsrede.
Mein persönliches Highlight ist Leila, ein ebenso mutiger wie bedrückender Dokumentarfilm der schwedischen Filmemacherin Fariba Heidari über eine Transgender-Frau in Afganistan. Die 64-jährige Leila arbeitet als Lehrerin in Herat. In intimen Szenen erzählt sie von ihrem schwierigen Alltag in einer patriarchalischen Gesellschaft, in der Männer sie verachten und vergewaltigen, und auch die Frauen sie nicht als ihresgleichen akzeptieren. Wir sehen sie aber auch als selbstbewusste Kämpferin im Herrenanzug, rotem Schleier und gewagtem Hüftschwung, die sich mit frechen Taxifahrern anlegt. Und als bejubelte Entertainerin, die auf traditionellen Hochzeitsfeiern tanzt. Solche Bilder zeigen, dass die Welt auch in Afganistan an manchen Ecken in Regenbogenfarben schillert – oder besser: schillerte. Im Abspann erfahren wir, dass die Dreharbeiten drei Monate vor der Machtübernahme der Taliban stattfanden und Leila inzwischen ins Ausland fliehen musste. Ein Film wie dieser wäre in Afganistan heute nicht mehr möglich. Umso wichtiger, dass er den Weg auf das Festival fand. Und dort den Publikumspreis erhielt.
Übrigens: Aktuelle Kurzfilme gibt es nicht nur auf Festivals zu sehen, sondern auch im Fernsehen, zum Beispiel im ARTE-Magazin Kurzschluss, oder auf der Streaming Plattform MUBI. Die Gewinnerfilme touren zudem durchs Land und sind vielleicht auch im Progammkino um die Ecke zu sehen.