SALVO: Arriving on Time

Eine Ausstellung in der Pinacoteca Agnelli feiert einen ungewöhnlichen Helden der italienischen Kunst

Was ist von einem Mann zu halten, der sich selbst SALVO nennt – kurz für Salvatore: Der Retter? Der sich in der Pose von Jesus Christus mit einem Heiligenschein um den Kopf fotografiert, seinen Namen in Großbuchstaben in glänzende Marmorplatten ritzt und sich im Stil der Hochrenaissance als Drachen-tötenden Heiligen Georg bemalt? Klingt nach einem narzisstischen Angebertyp, oder?

Ich muss zugeben, ich wusste nicht viel über den italienischen Künstler Salvatore Mangione (1947-2015), bevor ich die spannende Ausstellung SALVO. Arrivare in Tempo in der Pinacoteca Agnelli in Turin besuchte. Der 1947 in Leonforte, Sizilien, geborene Salvo war in den 60er Jahren eine treibende Kraft der Arte Povera-Bewegung in Turin und befreundet mit Giuseppe Penone, Alighiero Boetti und Robert Berry. In seiner anspielungsreichen Konzeptkunst, hauptsächlich Fotografien und skulpturale Arbeiten, beschäftigte er sich mit Formen der  Selbstdarstellung und Sprache. In seinen Autoritratti fotografierte er sich selbst als Renaissancemeister Raffael, in der Salvator-Mundi-Pose oder montierte sein Gesicht in andere ikonische Bilder. Er stellte auch seine Lapidi aus, Wortspiele und literarische Zitate auf massiven Marmortafeln, eine ausgefallene Materialwahl, wo seine Arte-Povera-Kollegen doch bewusst ärmliche Materialien wie Sackleinen, rostiges Metall oder Holzreste nutzten, um der Welt zu zeigen, dass Kunst mehr ist als eine schicke Ware.

Dass es Salvo nicht an Selbstbewusstsein mangelte, als er diese Werke im hochdiskursiven Klima der späten 60er Jahre präsentierte, ist offensichtlich. In einer Zeit, als die Menschen gegen den Vietnamkrieg und für marxistische Ideen auf die Straße gingen, demonstrierte er seine intellektuelle Unabhängigkeit. Die Ausstellung zeigt, dass Salvo nie ein strikter Anhänger des Konzeptkunst-Dogmas war. Mit seinen Werken schöpfte er aus einer längeren und reicheren Kunstgeschichte. Die Marmorplatten ​​mit mehrdeutigen Botschaften wie PIU TEMPO IN MENO SPAZIO (Mehr Zeit in weniger Raum) erinnern an römische Grabinschriften. In den frühen 1970er Jahren wich Salvo noch stärker von den progressiven Trends seiner Zeit ab und beschloss, sich ausschließlich der Malerei zu widmen – ein Move, dem er die nächsten vierzig Jahre treu blieb. Diese farbstarken Gemälde, meist Landschaften und Stadtansichten in leuchtenden Rot-, Blau-, Gelb- und Rosatönen, stehen im Mittelpunkt der Turiner Ausstellung.

Die Schau gibt keinen enzyklopädischen Überblick. Stattdessen ist sie in thematische Kapitel unterteilt, die einige der wichtigsten Einflüsse und Obsessionen hervorheben, die Salvos künstlerische Praxis geprägt haben. Sie beginnt mit der Rekonstruktion von zwei von Salvos bedeutendsten Ausstellungen im Jahr 1973: seiner Einzelausstellung in der John Weber Gallery in New York, wo er noch eine vollständig konzeptuelle Sprache verwendete, und seiner ersten ausschließlich der Malerei gewidmeten Ausstellung in der Galleria Toselli in Mailand. In New York präsentierte Salvo eine Gruppe seiner ironisch-ikonischen fotografischen Selbstporträts. Einige Monate später stellte er in der Galleria Toselli in Mailand nur ein Ölgemälde und ein Pastell auf Papier aus, die den Titel San Giorgio e il drago und San Michele trugen und beide 1973 gemalt wurden.

Das Motiv des Drachentöters wurde zu einer Obsession. Immer wieder malte Salvo seine Versionen klassischer Gemälde von Meistern wie Raffael, Carpaccio oder Cosmé Tura. Es war seine Art, gegen die Zwänge der konzeptuellen Orthodoxie anzukämpfen. Oder wie er selbst sagte: „In jenen Jahren musste ein junger Künstler, um wirklich auf der Höhe der Zeit zu sein, im absoluten White Cube ausstellen, mit Installationen und Werken, in denen jeglicher Einsatz von Farbe verboten war. Ich hingegen fühlte und fühle immer noch das Bedürfnis, Maler zu sein. […] Man wird mir zumindest zugutehalten, dass ich zu einer Zeit, als derartige Schritte nicht toleriert wurden, eine so riskante Entscheidung getroffen habe. Aber ich hatte schon immer meine Zweifel gegenüber Künstlern, die sich nie ändern.“

Als er wieder zu malen begann, ohne Rücksicht darauf, was seine Kollegen dachten, war der Geist aus der Flasche. Salvo begann mit Stadtszenen, den Bewohnern der Nacht, Männern in schwach beleuchteten Sportbars, die tranken, rauchten, Billard spielten, an Straßenecken rumlungerten oder auf ihren Motorrädern posten. Die Szenerien wirken stilisiert, getauscht in künstliches Licht wie Theaterkulissen. Oder Standbilder aus einem coolen Nouvelle-Vague-Film. Allmählich verschwinden die Menschen aus den Bildern. Die Stadtlandschaften verwandeln sich mehr und mehr in halbabstrakte Farbfeld-Geometrien. In den Nachtszenen wird die Physikalität des Lichts zum Hauptthema. Leuchtende Straßenlaternen erzeugen kegelförmige Objekte in Orange und Pink. Die Scheinwerfer der Straßenbahnen durchdringen die Nacht mit gelbem Strahl. Aber auch in gotischen Kathedralen und den Landschaften seiner Jugend in Sizilien findet Salvo Inspiration.

Die Kuratorinnen Sarah Cosulich und Lucrezia Calabrò Visconti haben die Ausstellung in thematische Abschnitte mit den Titeln wie „Studio“, „Bar Sport“, „La Grande Sera“ und „Mediterranea“ gegliedert. Die Gemälde sind oft in dichten Gruppen ähnlich aussehender Motive angeordnet, ein Hinweis darauf, dass Salvo bestimmte Szenen immer wieder malte – und so seinem Drang, Farbe auf die Leinwand zu bringen, auch eine konzeptuelle Dimension verlieh. Eine ganze Reihe von Gemälden ist der Kirche San Giovanni degli Eremiti in Palermo gewidmet, deren eigentümliche Architektur die sizilianisch-normannische romanische Tradition mit arabischem Stil verbindet. Salvo malt die mehrkuppelige Struktur in sinnlichen Farbtönen von leuchtendem Gelb und knalligem Pink.

Die visuell überzeugende Präsentation ist verwoben mit persönlichen Anekdoten, Briefen, Manuskripten und schnellen Skizzen des Künstlers, die Salvos selbstbewusstes, vielschichtiges Denken weiter erklären helfen. Als er 1969 die Aufmerksamkeit von Gian Enzo Sperone, einem der führenden italienischen Galeristen, auf sich ziehen wollte, kopierte er für seine Galeriebewerbung einen Brief von Leonardo Da Vinci an dessen zukünftigen Mäzen Ludovico Sforza. Die unverschämte Strategie funktionierte. Sperone nahm Salvo unter seine Fittiche, nur um ein paar Jahre später von dem Künstler mit einem weiteren beißenden Brief gefeuert zu werden: „Ich kann Ihre abgestandenen Methoden nicht länger ertragen. Die Welt ist groß und niemand unentbehrlich“, schrieb Salvo.

Er hatte keine Probleme, andere bekannte Galerien zu finden, die ihn vertreten wollten: Paul Maenz, Barbara Gladstone, Massimo Minini. Salvo nahm an der 41. Biennale von Venedig teil, hatte Museumsausstellungen in Bologna, Essen, Rotterdam und New York. Er veröffentlichte einen viel gelesenen Essay, Della Pintura. Imitazione di Wittgenstein, für den er den Schreibstil des deutschen Philosophen für seine Reflexionen über Kunst und die konzeptuelle Natur der Malerei imitierte. Seit Salvos Tod im Jahr 2015 gab es eine Reihe von Initiativen, um seine Bedeutung sowohl in der italienischen als auch in der internationalen Kulturlandschaft hervorzuheben. Sein Werk wurde als großer Einfluss auf eine Generation neuer figurativer Maler wie Nicolas Party bezeichnet, ein Vergleich, der auf den ersten Blick naheliegt. Dabei stand Salvo doch eigentlich immer im Widerspruch zur zeitgenössischen Kunstszene. Als leidenschaftlicher Individualist bediente er nicht die Trends des Kunstmarkts, hielt Abstand von den modegetriebenen Zeitlinien seiner Kollegen und beschäftigte sich lieber den zeitlosen Fragen der Kunstgeschichte. Er malte, weil er musste, brachte Gedanken auf die Leinwand, jagte Licht und Farbe.

Daher klingt Arrivare in Tempo – Arriving on Time zunächst anachronistisch für eine Salvo-Ausstellung. Je länger ich mich mit seinem Werk beschäftige, desto passender erscheint der Titel dann doch. Nicht nur, weil die Ausstellung einen unkonventionellen Künstler feiert, dessen auf Unabhängigkeit bedachte künstlerische Praxis heute besonders bedeutsam erscheint. „Arriving on time“ könnte tatsächlich Salvos Motto sein, seine geheime Antriebskraft, der ultimative Spruch auf einer seiner Marmortafeln. Dazu gibt es noch eine schöne Anekdote: Auf der Suche nach dem richtigen Licht soll Salvo mit seinem Auto oft dem Sonnenuntergang entgegen gerast sein. Bei einem dieser Fahrten verursachte er einen Autounfall. Seine Erklärung dafür: Er musste schnell fahren, um den richtigen Moment nicht zu verpassen. Arrivare in tempo! Zur rechten Zeit ankommen für das perfekte Licht.

Salvo. Arrivare in tempo läuft noch bis 25.05.2025 in der Pinacoteca Agnelli in Turin.